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H wie Habicht // Helen Mcdonald

Der Tod ihres geliebten Vaters warf die Stipendiatin an der Universität Cambridge aus der Bahn. Sie fühlte sich so verletzt, dass sie ihr Menschsein nicht mehr ertragen konnte und ihr Leben an einem Habicht ausrichtete, um wie das Raubtier zu werden. Das Buch, das sie mit dem Abstand von fünf Jahren über ihr Trauerjahr 2007 schrieb, wurde ein internationaler Bestseller und erhielt mehrere Literaturpreise.

Bereits in ihrer Kindheit war die Tochter eines renommierten Pressefotografen eine Einzelgängerin und von Greifvögeln so fasziniert, dass es an Besessenheit grenzte. „Tief im Wesen einiger Menschen verwurzelt, ist ein bestimmter Charakterzug, der eine natürliche Liebe zu Greifvögeln hervorbringt“, schrieb der britische Colonel Gilbert Blaine und weiter, „Zu einem wahren Falkner wird man geboren und nicht gemacht.“ Helen Mcdonald las alles über diese Tiere, versuchte sogar mit, wie Flügeln, hinter den Rücken verschränkten Armen zu schlafen, um von ihnen zu träumen und bekam mit nur zwölf Jahren ihren ersten Falken geschenkt.

„The Goshawk“ war eines der Bücher, welches sie als Achtjährige gleichzeitig anwiderte und beeindruckte.

Der 1906 in Indien geborene und 1964 in Griechenland gestorbene Autor Terence Hanbury White war das Kind der unglücklichen Ehe einer kalten Frau mit einem gewalttätigen Mann, sowie einer herzlosen Erziehung in britischen Internaten. Auf der einen Seite homosexuell und sadistisch, auf der anderen von philosophischen und ritterlichen Idealen geprägt, verwandelte er sich von einem innerlich zerrissenen und unglücklichen Lehrer zu einem alkoholkranken Erfolgsautor. Um die an ihm zerrenden Kräfte zu kanalisieren, richtete er einen Habicht ab, scheiterte an der Vermittlung seiner eigenen pädagogischen Ideale und schrieb ein Buch darüber. Bekannter und erfolgreicher war sein fünfteiliger Romanzyklus „Der König auf Camelot“, in dessen Handlung er sich als der Zauberer Merlin hineinschrieb. Als Lehrer „mit hohem, spitzem, sternenbesticktem Hut“ des zukünftigen König Artus verzauberte er diesen im Rahmen seiner Ausbildung unter anderem in einen Falken.

Der völlig überraschende Herztod ihres Vaters katapultiert Helen Mcdonald so sehr aus ihrem Leben, wie es nur jemand verstehen kann, dem dasselbe widerfahren ist. Vor ihr zogen unzählige Menschen in die Natur hinaus, um sich in der Wildnis seelisch zu häuten. Einige kamen dabei um, andere schrieben nach ihrer Rückkehr Bücher. In Großbritannien gibt es keine Wildnis mehr, so holte sie sich diese in Form eines „der gefährlichsten und auch der launischsten Greifvögel, die man sich vorstellen kann“ in ihr Vorstadthaus. Kommt die Wildnis jedoch zu einem nach Hause, kann man nicht aus ihr zurückkehren.

Der Habicht hatte mein Haus mit Wildnis erfüllt, ebenso wie eine Vase voller Lilien ein Haus mit Duft erfüllen kann“, beschreibt sie die ersten Tage mit ihrem Habichtweib Mabel dass sie von einem nordirischen Züchter erwarb.

Ursprünglich wollte sie nie einen besitzen. „Sie verunsicherten mich. Sie rochen nach Tod und Schwierigkeiten: gespenstische, fahläugige Psychopathen, die im Dickicht der Wälder lebten und töteten. Meine Liebe galt den Falken.“ Für den Laien sind es beides durchaus vergleichbare Greifvögel, für den Experten so unterschiedlich wie Pitbulls und Windhunde. Das Geheimnis sie in den Griff zu bekommen? „Wenn Sie einen braven Habicht wollen, müssen sie eines tun: Geben Sie ihm die Gelegenheit zu töten. So oft wie möglich. Mord bringt ihn auf Linie.“

Einen Habicht zu erwerben ist also nicht damit zu vergleichen, sich als Seelentrost eine Katze anzuschaffen. „Hier geht es um eine Flucht, um die Abhängigkeit von der Jagd mit einem Habicht. Vielleicht klingt das für manche übertrieben, aber man könnte sagen, es war eine Reise in die Unterwelt. Eine Reise an einen seltsamen, einen kalten Ort.” Die gebrochene Frau will so wie dieses Tier werden, um ihren Schmerz zu betäuben. H soll nicht mehr für Helen, sondern für Habicht stehen, denn der Habicht war „all das, was ich sein wollte: ein Einzelgänger, selbstbeherrscht, frei von Trauer und taub gegenüber den Verletzungen des Lebens.“
Ihre vorangegangene Begegnung mit dem Habichtweib – die Terzel genannten Männchen sind ein Drittel kleiner – beschreibt sie so: „Zwei riesengroße Augen. Mein Herz schlägt unkontrolliert. Sie ist ein Zauberkunststück. Ein Reptil. Ein gefallener Engel. Ein Greif aus einem illuminierten Bestiarium. Etwas Strahlendes und Fernes, wie durch Wasser fallendes Gold. Eine kaputte Marionette aus Flügeln, Beinen und lichtgesprenkelten Federn. […] Ihr Schnabel stand offen, ihr Nackengefieder war aufgestellt; ihre wilden Augen hatten die Farbe von Sonne auf weißem Papier und waren deshalb so weit aufgerissen, weil die ganze Welt auf einmal in sie eingefallen war.“

Die Beschreibung ihres Trauerjahres besteht mehr aus dem von den eigenen seelischen Untiefen geprägtem rustikalem Zusammenleben mit dem Vogel als aus Begegnungen anderen Menschen. Dabei erfährt man wahrscheinlich mehr von dieser Spezies als aus ornithologischen Fachbüchern: „Mein Habicht Mabel sieht Farben, die ich nicht wahrnehmen kann, bis ins ultraviolette Spektrum hinein. Sie sieht auch polarisiertes Licht, kann Thermik sehen, warme Luft, die aufsteigt, Strudel bildet und in Wolken verschwindet. Sie kann sogar die magnetischen Feldlinien sehen, die die Erde überziehen.”

Die Fehler T. H. Whites, mit dessen tragischem Leben und großem Werk sie sich als Parallelhandlung zunehmend mitfühlender auseinandersetzt und dessen Lebensstationen sie besucht, vermeidet sie erfolgreich. „Greifvögel sind keine geselligen Tiere wie Hunde oder Pferde, sie verstehen weder Zwang noch Bestrafung. Die einzige Möglichkeit, sie abzurichten, besteht in der positiven Verstärkung, das heißt in der Belohnung mit Futter.“ Vielleicht gelang ihr die symbiotische Beziehung über „eine beinahe unüberbrückbare Kluft“ auch, weil sie sich tiefer in das Tier hineinversetzen konnte, als in sich selbst? Dies führt sie jedoch „an den Rand des Menschseins“, da sie sich mehr mit Mabel als ihren eigenen Gefühlen auseinandersetzte.

Damit sich das hochsensible und furiose Tier an Menschen gewöhnen konnte – ein Haustier wird es niemals werden können- benötigte es am Anfang Ruhe und Stille. Der Habicht saß zuerst tagelang im Wohnzimmer hinter verdunkelten Scheiben und in völliger Isolation, um „den Abgrund der Angst“ zu überwinden und nicht durch die Flut der Sinneseindrücke wahnsinnig zu werden. Helen daneben und froh, eine Ausrede dafür zu haben, sich zurückziehen zu können. Ihr Leben ohne menschlichen Partner verwandelte sich zu einem kulinarisch wie emotional ungesundem Eremitendasein, in dem der Kühlschrank für den Habicht mit Küken und die Tiefkühltruhe für sie mit Pizzas gefüllt war. In dem gleichen Maße, wie der Habicht gezähmt wurde, wurde die Habichtlerin auf dem Weg in ihre innere Wildnis ungezähmter. „Ich fühlte mich unvollständig, wenn der Habicht nicht auf meiner Faust saß: Jeder von uns war Teil des anderen. Die Trauer und der Habicht hatten sich zu diesem seltsamen Zustand verbündet.” Etwas in ihr wollte sich von Helen zu einem Habicht verwandeln.

Virtuos geschrieben und übersetzt sind die Naturschilderungen? en gros et en detail, denn der Autorin gelingt es nicht nur die Welt mit den Augen eines Habichts zu sehen, sondern dies in einer zauberhaften lyrischen Sprache zu vermitteln. Selbst als Leser, der in einer völlig anderen Welt lebt, versteht man, wie Helen und Habicht die unbändige Freude an der Jagd und dem Töten von Fasanen und Kaninchen zusammenschmiedete. „Es ist wie ein Rausch, in dem du dich verlierst. Und du willst ihn wieder und wieder erleben.“ Der Habicht verursachte einen Sog, als hätte ein Dämon von Helen Besitz ergriffen und dann „bestand diese Welt allein aus Habichtdingen, und das, was mich antrieb, war auch das, was den Habicht antrieb: Hunger, Verlangen, Faszination, das Bedürfnis zu finden, zu fliegen, zu töten.“ Erschreckendes Innehalten gab es nur in wenigen Situationen wie der, als der Killerinstinkt des mordlustigen Rüpels auf ihrer Faust, „angespannt wie ein Katapult kurz vor dem Abwurf des Geschosses“ durch das Geschrei eines Babys aus einem Kinderwagen geweckt wurde. „Sofort schlug der Habicht die Klauen in meinen Handschuh, stieß sie in brutalen, dolchstoßartigen Krämpfen immer tiefer hinein. Töten. Das Baby weint. Töten.“ Oder als es sie im atemlosen Jagdeifer voller Mordlust angriff.
Das Tier ist jedoch kein Monster und nicht so übel, wie sein Ruf. Berührend sind die feinen Beobachtungen, wie es mit Papierkügelchen spielt, behaglich sein Gefieder aufplustert und mit den Federn raschelt oder vergnügt seine Herrin – besser vielleicht Gefährtin – anblinzelt.

Die Anstellung bei der University of Cambridge lief aus, eine neue Gastdozentur in Berlin wies sie ab, sie konnte ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen und musste in das kleinere leerstehende Haus von Freunden ziehen. Ansprache erhielt sie in dieser Zeit fast nur noch durch nahestehende Menschen und gesellschaftliche Außenseiter. Das Habichtweib war seit Monaten ihr einziger Lebensinhalt. Den größtmöglichen Balsam und Trost verspürte sie, wenn Mabel nach dem Flug freiwillig auf ihre Faust zurückkehrte. Sie verspürte keinerlei Ambitionen oder Lebenspläne auf eine normal gestaltete Zukunft und konnte zwischen ihrem Herzen und dem Habicht immer weniger eine Grenze ziehen.

Im Rückblick gab es auch lustige Situationen. Wie den Anblick, den sie staunenden Passanten bot, als sie nach der Beizjagd im Wald am Straßenrand saß. Die Haare ungewaschen, die Kleidung verdreckt, dazu großzügig mit dem Blut der Beute beschmiert, die der Habicht neben ihr gerade zerlegte.
„Haben Sie sich mal gefragt, ob Sie sich in letzter Zeit womöglich etwas haben gehen lassen?“, wurde sie von ihrem Psychologen beim ersten Termin gefragt. Möglicherweise schon. Sie erhielt Psychopharmaka und eine Therapie. Dies und der Zuspruch trauernder Mitmenschen nach dem Gedenkgottesdienst für ihren Vater, ein Jahr nach seinem Tod, halfen ihr schließlich aus der Depression.

Erst dann war sie bereit für diese Erkenntnisse: „Obwohl das Jahr wunderschön war – und in vieler Hinsicht auch sehr düster -, hatte ich einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich dachte nämlich, dass ich genauso sein wollte wie mein Habicht: ganz allein, unabhängig, auf niemanden angewiesen und erfüllt von einer unbeschreiblichen Wut. All das fühlte ich natürlich wegen des Todes meines Vaters. Ich habe den Habicht als Spiegel meiner selbst benutzt und mich irgendwann mehr als Habicht gefühlt denn als mich selbst. Am Ende habe ich gelernt: Die Geschichte der Natur ist eigentlich immer unsere eigene Geschichte. Der Habicht hat mich verändert und mich in gewisser Weise mit dem Tod versöhnt.“ Mit anderen Worten, Seelentrost ausschließlich in der Natur erfahren zu wollen, führt einem vom Menschsein weg, denn wir sind soziale Wesen und Tiere können uns nicht ersetzen. „Hände sind dafür geschaffen, die Hände anderer Menschen zu halten – sie sollten nicht ausschließlich als Sitzstange für Greifvögel dienen“ … „Ich erkenne jetzt, dass ihre Welt nicht die meine ist, und ein Teil von mir ist erstaunt, dass ich so etwas je denken konnte.“

„H wie Habicht“ ist ein Bildungsroman, in dem geschildert wird, wie sich die Protagonistin nach dem Tod ihres Vaters auf eine mystische Reise in die Welt des Habichts begibt. Am Ende der archetypischen Heldenreise kehrt sie verändert aus zurück und ist mit dem Tod versöhnt. Vor allem hat sie gelernt, die Natur nicht als Spiegelbild oder Gegenentwurf der menschlichen Gesellschaft zu begreifen. In Britannien nennt man das Genre dieses Buches, in dem sich Biographie und Naturbeschreibung vermischen, „New Nature Writing“. Ich nenne es faszinierend.

Rezension: Jens Werkmeister
Autorin: Helen Mcdonald
Titel: H wie Habicht
Verlag: Allegria

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